Für die einen sind das Internet und die technologische Entwicklung ein Segen, für andere eine grosse Gefahr. Egal auf welcher Seite wir stehen: Die Veränderungen sind gigantisch und unumkehrbar. Wir Journalistinnen und Journalisten sollten endlich damit beginnen, diese Umwälzungen nicht nur zu beklagen, sondern aktiver zu nutzen. Warum tun wir uns so schwer? Weil uns unser bisheriges journalistisches Selbstverständnis im Weg steht. Ein Plädoyer für ein neues – selbstbewussteres! – journalistisches Selbstverständnis am Beispiel des Datenjournalismus.
Über «guten» Journalismus und was es dazu braucht habe ich schon einmal geschrieben. Wenn es also so einfach ist, warum machen wir es dann nicht? Ich habe in den letzten Monaten viel darüber nachgedacht und an zwei Konferenzen meine Ideen präsentiert. Nun habe ich sie endlich aufgeschrieben. Ich bin überzeugt: Das Problem ist unser Selbstverständnis:
Bis jetzt geht Journalismus meist noch so: Der Journalist, die Journalistin (J) denkt sich ein Thema aus, das für das Publikum (P) relevant ist:
Der Journalist, die Journalistin sucht sich Experten (E) zum Thema, natürlich nicht nur einen, sondern mehrere, um verschiedene Perspektiven auf ein Thema zu erhalten und um ausgewogen zu berichten (eine sehr pointierte und lesenswerte Meinung zum Thema «Experten» hat Thomas Baekdal kürzlich geäussert).
Diese Experten haben auf Zugriff auf Daten und Informationen (D), die sie aggregieren. Mit diesen bereits verarbeiteten Daten und Informationen belegen sie ihre Aussagen.
Der Journalist, die Journalistin trägt die Aussagen und Belege der Experten zusammen.
Der Journalist, die Journalistin gestaltet daraus einen Beitrag und veröffentlicht ihn:
Dieses System des Gatekeepers, unten gleich noch einmal in der Übersicht, hat ewig lang prima funktioniert.
Die technologische Entwicklung, einfachere Tools und eine bessere Zugänglichkeit zu Daten haben dazu geführt, dass die Journalisten theoretisch selber mit Daten arbeiten und so die Abhängigkeit von Experten und Institutionen, die eine eigene Agenda haben, verringern können. Und dennoch tun das nur ganz wenige Kolleginnen und Kollegen. Warum?
Es geht um fehlende Kompetenzen!
Ja. Auch. Natürlich hat es mit fehlenden Kompetenzen zu tun. Welche Kompetenzen nötig sind, ist hinlänglich beschrieben (auch von mir hier). Man kann sie sich aneignen. Interessanterweise werden Ausbildungsinstitutionen, ich arbeite selber Teilzeit an einer, immer wieder mit der Forderung konfrontiert, «macht doch was!». Dabei gibt es seit Jahren Angebote, sie werden einfach nicht genutzt und müssen mangels fehlender Teilnehmer abgesagt werden.
Es geht um fehlende Ressourcen!
Ja. Immer. Diese Diskussion möchte ich an dieser Stelle nicht führen (ich kann das Wort «Ressource» eh nicht mehr hören, es geht um Prioritäten, denn Ressourcen sind immer knapp).
Es geht um ein überholtes Selbstverständnis!
Ja. Denn – etwas zugespitzt – sehen sich Journalistinnen und Journalisten so:
Das funktioniere in der heutigen Welt nicht mehr, wird etwa in der lesenswerten Publikation «Post-Industrial Journalism» argumentiert. Dort wird gefordert, dass Journalisten sich viel mehr als «Sense-Maker» verstehen sollten. Das könnte so aussehen:
Der Journalist (J) kennt sein Publikum (P) und überlegt sich, was das Publikum wissen / verstehen muss.
Die Quellen, auf die der Journalist zugreift, sind Daten (oder Informationen) (D), die noch nicht von Experten vorselektioniert worden sind.
Der Journalist interpretiert die Resultate und bereitet die Resultate so auf, dass sie für das Publikum optimal dargestellt sind (form follows function, aber nicht internen Funktionen, sondern den Bedürfnissen des Publikums). NACHTRAG ZUM ORGINAL-POST: Für eine korrekte Aufbereitung und Interpretation ist der Journalist, die Journalistin, auf die Zusammenarbeit mit Experten (zum Thema, zu Daten) angewiesen, da sie sich in einem ganz anderen Mass im Thema auskennen und/oder die Daten verstehen (siehe E unten). Wichtig ist dabei, dass der Journalist die Hoheit über die Fragestellung nicht aus den Händen gibt. ENDE DES NACHTRAGS.
Anders als der Schleusenwärter sieht der Sense-Maker seine Aufgabe nicht (nur) im Filtern, sondern vor allem im Vermitteln: Was heisst das, was geschieht, für die Leserinnen, die Zuschauer, die Zuhörer ganz konkret? Aus dem Produkt wird, wie Jeff Jarvis in einem lesenswerten Beitrag beschrieben hat, eine Dienstleistung. Nimmt der Journalist oder die Journalistin diese Vermittlungsfunktion ernst, muss er oder sie sich laufend neues Wissen und Fertigkeiten im Umgang mit Technologien, Tools und Daten aneignen. Um damit erstens zu von Partikulärinteressen unabhängigen Antworten auf die Fragen des Publikums zu kommen und diese zweitens auch zielführend (und in vielleicht noch nicht existierenden Formen) präsentieren zu können.
So trägt der Sense-Maker zur Erneuerung des Journalismus bei. Und hilft damit, dass aus dem Umbruch nicht ein Abbruch sondern ein Aufbruch wird.
“Vom Gate-Keeper zum Sense-Maker”
.
Alles, was Englisch betitelt ist, ist sowieso ein Schmarr’n.
(Volksweisheit)
Lieber Klaus! Bin offen für gute deutsche Bezeichnungen (der «Schleusenwärter» hat sich allerdings bis jetzt nicht durchgesetzt und den Begriff «Sense-Maker» habe aus dem englischen Beitrag zu «Post-Industrial Jouranlism» übernommen).
Man tue doch bitte nicht so, als gäbe es das nicht bereits. Michael Balter, John Bohannon, Geoff Brumfiel, Ewen Callaway, Adrian Cho, Jennifer Couzin-Frankel, Elizabeth Culotta, Rex Dalton, Ann Gibbons, Richard Kerr, Andrew Lawler, und Elizabeth Pennisi sind nur einige der Journalisten, die genau so arbeiten. Die haben allerdings auch alle etwas anständiges gelernt und sind imstande, zu verstehen wovon sie schreiben. Die Mehrheit der Journaille hat in der Schule in Deutsch und anderen Laberfächern blond und freundlich lächelnd in der ersten Reihe gesessen, allein dafür gute Noten gesammelt und in anspruchsvolleren Fächern versagt. Genau das sieht man deren Artikeln auch nach vielen Berufjahren noch deutlich an.
Lieber Herr Berger! Mit meinem Post meine ich ja auch genau diejenigen, die Sie im zweiten Teil Ihres Kommentars benennen. Es ist schön, dass es Leuchttürme gibt, aber solange man die namentlich aufzählen kann, haben wir ein Problem, nicht? 😉
Ob das Reden mit Engelszungen noch hilft? Ich versehe diesen Text als Aufruf zur Rückkehr zum journalistischen Handwerk. Das das alles mit hübschen Bildchen und dem Beschwören angelsächsischer Vorbilder geschieht, ist für mich ein Zeichen, dass bei vielen Journalisten in Deutschland nicht einmal mehr ein adäquates Problembewußtsein vorausgesetzt werden kann. Härter ausgedrückt: Substantielle Kritik am deutschen Journalismus ist ein absolutes no go und wird mit rigorosem Ausschluß aus der Community bezahlt.
Auf Verlagsseite geht der Trend ohnehin in die entgegengesetzte Richtung. Noch mehr Meinungs- und Verlautbarungsjournalismus, noch weniger Fakten, noch weniger Sachlichkeit. Alle drängen in die Wohlfühlecke am Wochenende, oder an die Plakatwände des Nachrichtenjournalismus im Internet. Bei der Lektüre vielen Artileln erschließt sich dem Leser der Zusammenhang oft nur noch, wenn er über entsprechend breites Zusatzwissen verfügt, dass der Journalist/die Journalistin offenbar nicht besitzt oder nicht zu kommunizieren bereit sind. Und da sind wir noch gar nicht bei der bedauernswerte Tatsache, dass viele Journalisten über Dinge schreiben, von denen sie tatsächlich nichts verstehen und sich auch nicht kundig machen müssen. Denn das Liefern zuverlässiger Informationen gehört bei vielen Medien nicht mehr zum journalistischen Aufgabenbereich. Da stehen einträchtig neben Meinungen Spekulationen und daneben wieder Meinungen, die im Kommentar noch einmal bekräftigt werden. Wer die deutschen Zeitungen von heute durchblättert, findet überhaupt keine Nachrichten mehr, die nicht durch Meinungen in das richtige Kästchen einsortiert, und damit entsprechend verkürzt werden. Wer nicht regelmäßig ausländische Zeitschriften und Internetportale konsumiert, ist in Deutschland völlig aufgeschmissen. Das war vor 20 Jahren tendenziell auch schon so, aber nicht in dieser bedrückenden Eindeutigkeit. Wer bestätigte Tatsachen sucht, muss ausweichen. Und ich meine hier nicht die Bild-Zeitung, die früher übrigens mal einen analytisch hochstehenden Politikteil besaß. Keine einzige Zeitung (außer vielleicht der NZZ)denkt an die Renovierung des journalistischen Angebots. Bei der FAZ haben sie jetzt sogar einen Schirrmacher-Preis ausgelobt. Da wird jeweils der größte Windmacher des Feuilletons des vergangenen Jahres ausgezeichnet (Achtung: Sarkasmus!). Es bleibt also gar nichts anderes übrig, als auf neue Ansätze jenseits des bestehenden Angebots zu hoffen.
Sehr geehrter Herr Hildebrandt! Haben Sie vielen Dank für Ihre ausführlichen und engagierten Zeilen. Ja, Sie haben mich richtig verstanden. Es ist ein Aufruf zur Rückkehr zum journalistischen Handwerk. Ich mache auch die Erfahrung, dass Kritik nicht (oder als Angriff) aufgenommen wird. Das ist sehr, sehr schade, denn wir sitzen alle im selben (dem Untergang zusteuernden) Boot. Es sei denn, wir ändern die Richtung…. Ich bleibe dran und versuche, meinen Teil zu den neuen Ansätzen beizutragen. Drücken Sie mir – uns! – also die Daumen 😉
Ihr ganzer Beitrag beruht darauf, Sichtweisen und Arbeitstechniken: Auswahl und Interpretation, die jeder Journalist, Historiker etc. anwendet, künstlich zu trennen. Dann wählen Sie eine Seite willkürlich aus und stellen sie als ein erst zu verwirklichendes Ideal dar. Als wären Journalisten bis heute bloße Mittelsmänner reiner Daten/Informationen gewesen. Wissens(chafts)theoretisch stecken Sie überhaupt noch im 17./18. Jh. Diese reinen Daten/Informationen, von denen Sie sprechen, gibt es überhaupt nirgendwo. Auswahl und Interpretation sind schon nicht zu trennen (nach welchem Kriterium soll ich auswählen?), aber wenn der Journalist/Historiker keinen Sinnbezug an den historischen/empirischen ‘Stoff’ heranträgt, gibt es keine ‘Daten’, bestenfalls eine sinnlose Mannigfaltigkeit. Was Sie von Journalisten fordern, ist die Reflexion selbstverständlicher Sinnbezüge und die reflektierte Komplexion, also Sinnstiftung. Das ist alles überhaupt nichts neues. Sie machen mir aber nicht grade den Eindruck, als wenn Reflexion Ihrer Sinnbezüge und Grundbegriffe zu Ihrem Tagewerk gehörte. Das in medien-affinen Kreisen so geliebte Gefasel von ‘Informationen’ muß man nicht kritiklos nachplappern. Und um himmelswillen, machen Sie sich mit Ihrer eigenen kulturellen Überlieferung vertraut. In der Erkenntnistheorie sind die Angelsachsen nie so richtig über Hume hinausgekommen. Sie hätten doch in der Schweiz in Piaget ein moderne Alternative.
P.S.: Die bunten Bildchen sind Spitze, wie im Kindergarten! Aber so ist das eben, die literate Kultur ist am Ende, es lebe Bunti-Bunti-Klicki-Klicki und Stochastik!
Sehr geehrter Herr Giest
Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihr Feedback, das ich mit grossem Interesse gelesen habe. Was ich mit meinem Beitrag versucht habe: Meinen Kolleginnen und Kollegen auf Redaktionen einen Zugang zum Thema zu geben, der sehr plakativ und mal anders ist… Es ist mir – zumindest bei Ihnen – nicht gelungen. Ganz im Gegenteil: Mit diesem «Bunti-Bunti-Klicki-Klicki» und meiner «Stochastik» habe ich Sie – so lese ich das zumindest zwischen den Zeilen – erzürnt. Geben Sie mir noch einmal eine Chance Ihnen zu beweisen, dass ich nicht ganz so unbedarft bin wie Sie mich darstellen?
Sie schreiben, dass Sinnstiftung nichts Neues sei. Das stimmt. Ich weiss allerdings nicht, auf welchen Redaktionen Sie unterwegs sind. Ich habe vor allem mit regionalen Medien zu tun, bei denen die Redaktionen personell völlig ausgedünnt sind. Theoretisch ist es schon so wie Sie schreiben: Jeder Journalist wendet diese Sichtweisen und Arbeitstechniken an. Praktisch aber hat kaum mehr jemand Zeit zum Nachdenken und Interpretieren – vielleicht ist das in Deutschland ja anders?
Viel wichtiger noch aber scheinen mir folgende Fragen: Worüber denken wir nach und worauf basieren unsere Interpretationen? Was ich in meinem Alltag sehe: Themen und Foki auf Themen werden immer mehr durch geschicktes Agenda-Setting gesetzt, gut dotierte PR-Stellen bekommen immer mehr Einfluss auf journalistische Inhalte. Durch die Ausdünnung der Redaktionen können Journalisten dieser Entwicklung immer weniger entgegensetzen und geben damit mehr und mehr die Hoheit über Themen ab. Um doch noch den Anschein von Unabhängigkeit zu erwecken, werden dann möglichst gegensätzliche Experten zu Themen befragt und die Quotes einander gegenüber gestellt.
Früher war übrigens auch nicht alles besser, da hatte man zwar viel mehr Zeit um nachzudenken, man liess sich aber trotzdem einspannen. Ein kleines Beispiel: Bis Ende der 90er Jahre publizierte die zuständige Stelle die schweizerischen Arbeitslosenquoten in folgenden Kategorieren: männlich/weiblich und Schweizer/Ausländer. Die Zahlen, wie viele ausländische Frauen oder Männer arbeitslos waren, wurde nicht publiziert – aus politischen Gründen (weil ausländische Männer den weitaus höchsten Anteil hatten). Die Deutungshoheit der Experten staatlicher Stellen zu diesem Thema wurde erst um die Jahrtausendwende in Frage gestellt.
Deshalb möchte ich, dass wir Journalistinnen und Journalisten uns erstens die Hoheit über die Fragestellung von den Experten (zurück-)holen und zweitens die Fähigkeit aneignen, selber mit Daten umzugehen, um Antworten zu finden.
Sie schreiben, diese reinen Daten gebe es nicht. Da muss ich Ihnen widersprechen – zumindest in der Schweiz. Bei uns muss die öffentliche Hand immer mehr Daten publizieren und Datenbanken öffentlich machen. Ein Beispiel: Wenn Sie früher einen Artikel schreiben wollten über Mauscheleien bei Vergaben von Grossaufträgen durch staatliche Stellen (falls Sie von diesen überhaupt erfahren haben!) mussten Sie eine Quelle haben, die Ihnen solche Themen steckt. Heute können Sie – wie das die Kollegen von der SonntagsZeitung und vom Tagesanzeiger gemacht haben – Datensätze analysieren, Ungereimtheiten finden und so zum Beispiel systematisches Versagen der Aufsicht nachweisen, was in diesem konkreten Fall passiert ist und weitreichende Konsequenzen hatte – weit über die eine Institution hinaus.
Übrigens: Ungereimtheiten in Datensätzen findet man sehr gut mit Visualisierungen – bunten Bildchen, oder wie Sie so schön sagen «Bunti-Bunti-Klicki-Klicki». Aus diesen Visualisierungen sind verschiedene ausführliche und relevante Lesestücke entstanden. Die literate Kultur ist also noch lange nicht am Ende – ganz im Gegenteil.
Mit besten Grüssen, Alexandra Stark
Hallo, ich habe Ihre Antwort zur Kenntnis genommen. Nicht, daß Sie denken, Sie hätten sich umsonst die Mühe gemacht. Wieso ich mich weiland erzürnt habe, kann ich nicht mehr sagen. Beste Grüße, JG