06.10.2013

Jedes Medium hat die Kommentare, die es verdient

Immer, wenn es um Ausländer geht oder um Migration, wird es in den Kommentarspalten von Medien eher früher als später hässlich. Was rechtlich problematisch ist, wird rausgefiltert. Das, was bleibt, ist aber immer noch genug, um für Unbehagen zu sorgen. Da stehen Dinge, die wir Journalistinnen und Journalisten lieber nicht lesen würden und deren Existenz wir lieber nicht wahrhaben wollen. Das einfachste Mittel dagegen: Die Kommentarfunktion ausschalten (oder in einem nächsten ähnlich gelagerten Thema gar keine Möglichkeit zum Kommentieren geben).

Das können wir natürlich tun. Aber es löst das Problem nicht, denn die Welt um uns herum hat sich verändert. Um das Problem zu lösen, müssen wir zwei Dinge tun:

  • Unser Selbstverständnis verändern und unsere Rolle als Journalistinnen und Journalisten erweitern.
  • Kommentare nicht als das Ende einer Berichterstattung verstehen, sondern als Anfang.

1.) Das neue Selbstverständnis: Der Gatekeeper hat ausgedient

Wir Journalisten verstehen uns noch immer als Gatekeeper, die entscheiden, was die Leute da draussen brauchen und was nicht. Wir überlegen uns, was wichtig ist, suchen uns Experten, die uns etwas dazu sagen, verpacken das in einen Artikel, publizieren ihn, schreiben eventuell noch einen Kommentar dazu. Die Leute da draussen lesen das und sind informiert und in der Lage, Entscheidungen zu treffen, die unser gesellschaftliches Zusammenleben angehen. Wir Journalisten glauben also noch immer, dass die Medien darüber entscheiden, was die Gesellschaft bewegt und was nicht: Was bei uns nicht vorkommt, das bekommt keine Plattform und kann damit keine Rolle spielen.

Früher sind, dieser Logik folgend, fremdenfeindliche Leserbriefe auf Redaktionen im Mülleimer gelandet. Heute landen sie im Internet – online gestellt von den Verfassern selbst, gerne auch versteckt in der Anonymität (danke Andreas Gossweiler für den Hinweis, dass der Aspekt der Anonymität gefehlt hat). Es gibt unzählige Beispiele von fremdenfeindlichen Seiten, die ich hier lieber nicht verlinken möchte. Fakt ist: Diese Leute haben mit dem Internet die Möglichkeit bekommen, das zu sagen, was sie denken und müssen sich nicht von uns Journalisten «ignorieren» lassen. Sie schreiben Blogs über Themen, die es nicht in die Leitmedien schaffen. Sie bilden Gruppen auf Facebook, um sich über ihre Themen auszutauschen. Dank der Kommentarfunktionen können sie das sogar in den von ihnen verhassten Leitmedien tun.

Natürlich ist es wichtig, dass Medien eine Auswahl treffen, Themen rauspicken und andere beiseite lassen. Würden wir das nicht tun, bräuchte es uns nicht. Denn den Ort, an dem es alles gibt, den gibt es längst: das Internet. Es stellt sich allerdings die Frage nach den Kriterien dieser Auswahl. Die heutigen (Leit-)medien orientieren sich bei ihrer Berichterstattung sehr stark an Institutionen und ihren Haltungen (Interessen). Andere Themen werden ausgeblendet, etwa weil sie schwierig zu fassen sind oder unsexy (zum Beispiel Regulierung des Finanzmarktes, Zukunft der Altersvorsorge) oder weil man schnell in den Verdacht gerät, rechte Kreisen eine Plattform zu bieten, wie eben beim Thema Migration.

Ja, die Gefahr besteht. Ich plädiere hier nicht dafür, Vertretern von extremen Positionen mehr Stimme zu geben. Aber wir müssen uns die Themenhoheit wieder zurückholen. Denn es ist ein Thema, das die Leute beschäftigt und Auswirkungen auf unser Zusammenleben und unsere Gesellschaft hat – ob wir das opportun finden oder nicht. Ich glaube, es ist für uns Journalisten essenziell, die Ängste und Sorgen der Menschen ernst zu nehmen. Das geht aber nur, wenn wir in anderen Kategorien, die uns bei unserer Aufgabe einschränken, verabschieden. Wir lassen uns viel zu sehr von Ideologien und Interessen leiten, statt von unserem eigentlichen Auftrag: Probleme zu benennen und Antworten einzufordern.

Migration ist ein sehr gutes Thema, um das zu illustrieren. Seit dem letzten Abstimmungswochenende frage ich mich: Sind im Tessin wirklich 2/3 derjenigen, die abstimmen gegangen sind ausdrücklich für ein Burka-Verbot? Kann es nicht sein, dass diese Burka-Vorlage das einzige Ventil ist, über das sie ihren diffusen Ängsten im Umgang mit Migration Luft verschaffen können?

Und ich frage mich: Wäre es nicht die Aufgabe der Medien, diese Ängste ernst zu nehmen statt in unserer Berichterstattung staatstragende Institutionen mit nichtssagenden Allgemeinplätzen zu zitieren wie zum Beispiel heute (6. Oktober 2013) in der Sonntagszeitung?

Glauben wir wirklich, dass wir mit solchen Inhalten der komplexen Thematik gerecht werden und die Fragen beantworten, die die Leserinnen und Leser haben? Ich höre viele Kolleginnen und Kollegen sagen: «Aber das tun wir doch!». Wie der Blick in die Kommentare zeigt, offensichtlich falsch oder nicht genug. Klar haben wir schon x-Mal über das Thema geschrieben. Aber das ist nicht das Kriterium, das Kriterium ist, ob wir damit die Menschen erreichen (siehe dazu auch meinen vorletzten Blogeintrag).

Mir graut schon vor der Auseinandersetzung, wenn die SVP die Burka schweizweit verbieten lassen will. Wollen wir dann – in der Hoffnung, dass unsere Leser/Userinnen/Zuschauer/Zuhörerinnen dann doch endlich mal kapieren, was sie in die Urne legen sollen – weiter Experten zitieren, die sagen, dass so eine Vorlage ganz falsch ist? Und wollen wir wieder die Kommentarfunktion ausschalten oder – wenn sie offen ist – uns über die Meinungen unserer User empören? Wie damals bei der Minarett-Initiative, als die Leitmedien wochenlang gebetsmühlenartig wiederholt haben, dass diese Vorlage auf keinen Fall durchkommen darf. Über die wüsten Kommentare erschrocken wurden auch damals Kommentarfunktionen abgestellt. Und was ist passiert? Das «Volk» hat nicht auf uns Medien gehört. Das war ein Warnschuss für die Gatekeeper, den sie allerdings geflissentlich ignoriert haben. Das ist fatal, denn es treten andere Player auf den Marktplatz der Ideen. Wollen wir das Feld wirklich denjenigen überlassen, die den Leuten zuhören und den Frust für ihre Zwecke nutzen? Und wollen wir wirklich, dass die Leute ihren Frust an der Urne ablassen? Kommen so wirklich die besten Entscheide zustande?

Ich plädiere nicht für einen anwaltschaftlichen Journalismus der alten Schule, es ist nicht an uns, die Antworten zu geben, was wir haben müssen ist eine Haltung, die sollte sich vor allem auch darin äussern, wie wir an Themen herangehen. Ich finde deshalb, dass wir unsere Rolle überdenken müssen. Sind wir wirklich noch die Gatekeeper von früher oder soll der Journalist / eine Journalistin heute nicht eher eine neue Rolle haben: die des «Sense-Makers», der den Menschen hilft, die Komplexität zu verstehen und zu bewältigen, weil sie es alleine nicht mehr schaffen?

2. Ein neuer Ansatz: Kommentare sind nicht das Ende, sondern der Anfang

Wenn wir das tun wollen, dann müssen wir lernen, unseren Leserinnen / Usern / Zuhörerinnen / Zuschauern zuzuhören. Kommentare sind heute für viele Redaktionen lediglich die Hoffnung auf eine billige Erweiterung des medialen Angebots. Und genau deshalb passiert das, was passiert: Da werden Scheindiskussionen geführt, im besten Fall von Menschen, die ihre Meinung sagen wollen, im schlimmeren Fall von (bezahlten) Interessenvertretern. Beiden ist gemeinsam: Keiner wird je einen Millimeter von seiner Position abweichen. Die «Daumen-rauf»- und «Daumen-runter»-Buttons, mit denen Leserinnen und Leser Kommentare z.B. beim Tagi bewerten können, sind ein interessanter Hinweis auf die Verteilung der Meinungen, aber sie zementieren vor allem Positionen. Diese Zementierung, ist zumindest mein Eindruck, trägt wesentlich zum aggressiven Ton in solchen Kommentarspalten bei.

Was also tun? Kommentare sollten nicht der Schluss einer Berichterstattung sein, sondern der Anfang der nächsten. Sie können extrem wertvoll sein und Hinweise darauf geben, welche Themen wir anpacken sollen. Aber es ist ein langer, steiniger Weg dahin. Und: Gute Kommentare sind, wie guter Content nicht gratis zu haben, es steckt viel Arbeit dahinter. Es muss eine Diskussions-, sogar eine Dialogkultur entwickelt werden. Kommentare müssen selektioniert und vor allem kuratiert werden, damit sie etwas bringen. Wer einen Kommentar abgibt, darf das nicht anonym tun. Es braucht von der Redaktionsseite aber auch Transparenz darüber, warum Kommentare nicht genommen werden. Journalisten, deren Texte online stehen, müssen sich einmischen, in Dialog treten, nachfragen, mitdiskutieren. Wird das nicht gemacht, sind Kommentarspalten kein Gewinn, sondern bleiben die Kotztüte des Internets. Etwas überspitzt könnte man dann sagen: Jedes Medium bekommt die Kommentare, die es verdient.

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Kommentare

  1. Sind im Tessin wirklich 2/3 derjenigen, die abstimmen gegangen sind ausdrücklich für ein Burka-Verbot?

    Man weiss es nicht, denn abgestimmt wurde nicht über ein Burka-Verbot.

    Politisch korrekt scheint es zu sein, dass sich Journalisten über die Kommentare ihrer Leser enervieren. Rassisten! Pöbel! Wutbürger! Ich hoffe, dass die Inhalte solcher Journalisten auf Dauer nicht überleben.

    Oder auf die Migration übertragen: Wenn Wirtschaftsflüchtlinge aus Eritrea plötzlich journalistische Stellen streitig machen würden, sähen die veröffentlichten Inhalte sofort anders aus. Jenseits der veröffentlichten Inhalte und dort, wo es nicht gilt politisch korrekt zu sein, äussern sich viele Journalisten sowieso schon genauso wie ihre Leser.

    1. Lieber Markus
      Vielen Dank für Ihre prompte Antwort! Sie regen sich über Journalisten auf, die sich über die Kommentare ihrer Leser enervieren. In meinem Beitrag steht, dass mir der grundsätzliche Umgamg auf Redaktionen mit Kommentaren auch nicht passt und es mein Anliegen ist, für die Kommentare im Netz eine neue Rolle zu finden. So, wie das jetzt läuft, ist es doch eher sinnlos, oder? Ich könnte Ihnen jetzt antworten, zum Beispiel, dass Ihr Beispiel mit dem Wirtschaftsflüchtling aus Eritrea an den Haaren herbei gezogen ist. Dann würden Sie sich aufregen, mir wieder antworten. Und so weiter. Am Schluss haben wir beide schlechte Laune und gebracht hat es gar nichts. Weil weder Sie noch ich von unserer Meinung abweichen werden. Oder liege ich da falsch? 😉 Ich weiss nicht, ob Sie ein fleissiger Kommentarschreiber sind, aber mich würde wirklich interessieren: Wann finden Sie, bringen Kommentare auf Medienseiten etwas? Was braucht es? Was darf nicht passieren? Danke!

  2. Es herrscht nicht nur eine Vernachlässigung der Kommentare, bei manchen Medien muss ich den Eindruck bekommen, dass sie gezielt Aufregerthemen in die Leserschaft werfen, um die sich dann die User balgen wie Strassenhunde um ein fauliges Stück Fleisch, während die Online-Redaktion sich vor dem Bildschirm zurücklehnt – lasst die Spiele beginnen. Warum Kommentare nicht gänzlich abschaffen und durch moderierte Meinungs- und Diskussionforen ersetzen, macht mehr Arbeit, hält aber all jene beim Thema (und auf der Seite), denen es um mehr als eine meinungspolitische Triebabfuhr geht. Und warum gehen Redaktionen nicht vermehrt mit Pro/Contra-Kommentaren “in Vorlage” und liefern so den Impuls, den Startpunkt für eine erweiterte Diskussion mit der Community/ der Userschaft?

    1. Liebe Martina!
      Danke für deinen Kommentar. Die Frage ist doch, was will man mit den Kommentaren? Provokation scheint zu Traffic zu führen. So lange das das Ziel ist, werden sie wohl weiter gestreut. Ich finde auch, dass Kommentare, so wie sie jetzt eingesetzt sind, kontraproduktiv sind.

      1. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Traffic! Der Druck, der auf den Online-Redaktionen lastet, das abfliessende Werbegeld für den Print über www wieder reinzuholen (haha!), dieser Druck ist enorm bis geradezu irrsinnig. Und weil Traffic ein reines Quantitätskriterium ist, ist er auch der natürliche Fressfeind der Qualität. In letzter Konsequenz auch, was die Kommentare angeht.

        1. Dies ist ein Kommentar für Andreas Gossweiler @silver_train, der mir auf Twitter geschrieben hat, was denn «ernst nehmen» genau heisst. Ich antworte hier, weil ich mehr als 140 Zeichen brauche.
          Lieber Herr Gossweiler! Danke für den Hinweis, das habe ich nicht gut erklärt, deshalb hier noch einmal etwas ausführlicher: Damit wir Medien unseren Job gut machen können, sollten wir verstehen, wo denn der Schuh drückt. Dazu müssen wir unsere Leser ernst nehmen. Aber nicht, um die Vorurteile zu bedienen, welche die Leute haben. Lesen Sie doch mal die Kommentare der letzten Tage an, da verstehen die Leute nicht, warum man die Grenzen im Mittelmeer nicht besser bewachen kann, warum die Entwicklunghilfegelder nicht helfen, etc. OK, Sie können nun sagen, «darüber wurde schon so viel geschrieben!». Ja, das kann sogar sein, aber offensichtlich nicht so, dass es bei den Leuten angekommen ist. Besser erklärt? Ich hoffe schon! 😉

          1. Es herrscht nicht nur eine Vernachlässigung der Kommentare, bei manchen Medien muss ich den Eindruck bekommen, dass sie gezielt Aufregerthemen in die Leserschaft werfen, um die sich dann die User balgen wie Strassenhunde um ein fauliges Stück Fleisch, während die Online-Redaktion sich vor dem Bildschirm zurücklehnt – lasst die Spiele beginnen. Warum Kommentare nicht gänzlich abschaffen und durch moderierte Meinungs- und Diskussionforen ersetzen, macht mehr Arbeit, hält aber all jene beim Thema (und auf der Seite), denen es um mehr als eine meinungspolitische Triebabfuhr geht. Und warum gehen Redaktionen nicht vermehrt mit Pro/Contra-Kommentaren “in Vorlage” und liefern so den Impuls, den Startpunkt für eine erweiterte Diskussion mit der Community/ der Userschaft?

  3. Vielen Dank, Alexandra Stark, für die erklärenden Zeilen. Jetzt verstehe ich besser, was Sie meinten mit der Forderung, Journalisten müssten die Kommentarschreiber ernst nehmen. Allerdings bin ich der Meinung, dass «darüber» in der Tat schon viel geschrieben wurde und weiterhin viel geschrieben wird. Ich bin sehr dafür, dass man Leserfeedbacks als Anregung für die journalistische Arbeit verwendet, das mache ich selber auch. Mich dünkt jedoch, dass Sie einen wichtigen Faktor in Ihrem Text zuwenig gewichtet haben, und das ist die Art, wie man im Internet Kommentare schreiben kann. Hier gibt es fundamentale Unterschiede zur Art, wie man einen Leserbrief schreibt und auch zur Art, wie man sich am Stammtisch ausdrückt. Dies vor allem darum, weil man sich im Internet anonym äussern kann, was am Stammtisch und beim Leserbrief nicht möglich ist (es sei denn, man zieht sich am Stammtisch eine Burka an, sorry für den kleinen Scherz). Diese Anonymität führt, und da bin ich mir ziemlich sicher, dazu, dass rassistische Gefühle im Internet einen stärkeren Ausdruck bekommen als im «real life». Wegen dieser Online-Eigendynamik kann man auch mit dem raffiniertesten, aufwändigsten Community Management nicht verhindern, dass Leute aggressive, hasserfüllte Kommentare schreiben. Hier hilft nur eines: der virtuelle Papierkorb.

  4. Liebe Martina! Einverstanden! Dabei liessen sich Kommentare so gut nutzen, um die Inhalte besser für die Leserinnen / User etc. aufzubereiten. Nicht, in dem man ihnen nach dem Mund redet, die Themen aber so aufgreift, dass sie sie lesen / schauen / hören.

  5. Lieber Herr Gossweiler! Das ist richtig, danke für den Hinweis. Ich werde den Text gleich noch anpassen! Schönen Abend noch und frohes Tun!

  6. Es herrscht nicht nur eine Vernachlässigung der Kommentare, bei manchen Medien muss ich den Eindruck bekommen, dass sie gezielt Aufregerthemen in die Leserschaft werfen, um die sich dann die User balgen wie Strassenhunde um ein fauliges Stück Fleisch, während die Online-Redaktion sich vor dem Bildschirm zurücklehnt – lasst die Spiele beginnen. Warum Kommentare nicht gänzlich abschaffen und durch moderierte Meinungs- und Diskussionforen ersetzen, macht mehr Arbeit, hält aber all jene beim Thema (und auf der Seite), denen es um mehr als eine meinungspolitische Triebabfuhr geht. Und warum gehen Redaktionen nicht vermehrt mit Pro/Contra-Kommentaren “in Vorlage” und liefern so den Impuls, den Startpunkt für eine erweiterte Diskussion mit der Community/ der Userschaft?

  7. Hallo Frau Stark!

    Ich stimme Ihnen zu 99 Prozent zu. Wenn die Redaktionen sich Ihre Vorschläge zu Herzen nehmen würden, wären die Kommentarspalten vielleicht bald nicht mehr die “Kotztüte des Internets” (schönes Sprachbild übrigens!). Allerdings glaube ich, dass die Schließung der Kommentarfunktion bei heiklen Themen häufig schlicht die Folge eines Ressourcenproblems ist. Welche Online-Redaktion im deutschsprachigen Raum hat schon genügend Personal, jeden einzelnen jusitiziablen Kommentar zu sperren oder bei jedem grenzwertigen Kommentar zu entscheiden, ob man ihn gerade noch veröffentlichen kann oder ob er die Grenze zur Beleidigung/Verleumdung/Volksverhetzung/was auch immer schon überschritten hat, wenn pro Stunde 200 neue Kommentare eingehen, von denen drei Viertel zumindest die Grenzen des guten Geschmacks sprengen? Und mehr Personal einzustellen, ist bei der aktuellen wirtschaftlichen Lage ja auch nicht so einfach – gerade weil den Online-Redaktionen ja immer noch gerne vorgehalten wird, dass sie viel zu wenig Geld bringen im Vergleich zu dem, was sie kosten.
    Wenn die Redaktionen dann die Kommentarfunktion sperren, ist das natürlich auch ein Zeichen der Resignation – gerade wenn in der Kommentarspalte der Hinweis steht, die Redaktion sehe sich “aufgrund zahlreicher beleidigender und hetzerischer Kommentare” zu diesem Schritt gezwungen. Das sehen viele Pöbler und Hetzer dann wahrscheinlich noch als Bestätigung ihres Treibens.
    Die beste Möglichkeit, Kommentatoren den Schaum vor dem Mund zu nehmen, ist meiner Meinung nach, wenn man es so macht wie Sie: nämlich wenn man mit ihnen in einen Dialog tritt und auf Kommentare antwortet. Manchmal ist man dann überrascht, wie freundlich und höflich mancher Pöbler plötzlich wird, wenn er merkt, dass er es nicht mit Maschinen, sondern mit Menschen zu tun hat, mit denen man auch ganz normal reden kann. Aber da wären wir wieder beim Ressourcenproblem: Wenn es schon personell unmöglich ist, bei jedem einzelnen Kommentar zu entscheiden, ob er justiziabel ist oder nicht, wie soll man es dann schaffen, auf jeden einzelnen zu antworten?

    1. Lieber Philipp
      Vielen Dank für Ihre Antwort! Das ist natürlich der springende Punkt, die Ressourcen. Ich muss sagen, mir geht das Wort langsam aber sich auf den Wecker. Ja, wir haben zu wenig Ressourcen. Das wird sich auch kaum mehr ändern. Was sich ändern kann, ist die Frage, WAS wir mit den Ressourcen machen, also die Prioritätensetzung. Und da, glaube ich, ist noch Spielraum. Wozu Kommentare zulassen, wenn man sie nicht bewältigen kann? Ich glaube, das ist dann eine Pseudo-Publikumsnähe, die nur in grossem Frust endet. Ihre Beobachtung, dass Leute, wenn man sich ihrer annimmt, plötzlich einen anderen Ton anschlagen, habe ich auch schon gemacht. Das ist ein Argument mehr dafür, sich zu kümmern! Das heisst aber nicht, auf jeden einzelnen zu antworten, umso mehr, als doch viele immer wieder ins selbe Horn blasen!

  8. “Immer, wenn es um Ausländer geht oder um Migration, wird es in den Kommentarspalten von Medien eher früher als später hässlich. Was rechtlich problematisch ist, wird rausgefiltert.”
    .
    …weil es nicht der Meinung und Sicht des Schreibers, des Blattes entspricht?! Wenn das tatsächlich so viele Menschen sind, die da oft unverblühmt (und ungekonnt, ungeschliffen) von ihren Erfahrungen mit den (als Beispiel genannten) “Ausländern” erzählen, sollte man hinhören und nachdenken, aber das nicht generell entsetzt (huch? ‘ne andere Meinung!) löschen oder zensieren.
    Nicht alle Menschen sind gleich Nazis, weil sie anders denken als manche Schreiber, auch andere Erfahrungen haben, in anderen Kreisen aufgewachsen sind und verkehren, oft u-Bahn oder S-Bahn fahren (welcher Redakteur mamcht das? täglich?) aus einer ganz anderen Schicht kommen, usw. usf.
    Wenn ich so manch’ Artikel (angeblich FÜR die ach so armen Ausländer, Frauen, was-weiß-ich-wen noch) lese, nicht selten in der taz, sträuben sich mir die Haare. Robert Gernhardt (unverdächtig, nehm’ ich mal an) hat das bereits vor 30 Jahren gerne & ausführlich aufgespießt, dieses sich fremd-erregen und sich einsetzen für Gruppen, die das vielleicht so gar nicht wollen, sondern als ganz NORMALE Menschen angesehen werden wollen, mit allem drumherum, auch Nagativem (Behinderte, Frauen, Ausländer). Was zum Beispiel GHernhardt über “Neger” geschrieben hat, resp. über das Verbot, dies unschuldige Wort zu benutzen, ist heute – erst recht heute – noch lesenswert. Ich sag, um diesem Schwachsinn zu entgehen und ihm zu entgegnen, nur noch “Mohr”. Tja.

    1. Lieber Jeeves! Danke für Ihre Zeilen! Wenn Sie meinen Blogbeitrag ganz gelesen haben, dann merken Sie, dass ich ja genau dafür plädiere, die Themen nüchterner zu betrachten, sie loszulösen aus der ideologisierten Debatte und einen Schritt weiter zu kommen! Da liegen wir also gar nicht so weit auseinander. Ich bin übrigens gar nicht dafür, Meinungen zu zensieren. Menschenverachtende Aussagen aber schon!

  9. “Wollen wir dann – in der Hoffnung, dass unsere Leser/Userinnen/Zuschauer/Zuhörerinnen dann doch endlich mal kapieren, was sie in die Urne legen sollen – weiter Experten zitieren,…”

    Schreckliches Verständnis von Journalismus, das hinter diesem Satz steckt. MMn haben “die Menschen” genau darauf keine Lust.

    Die Behauptung, dass Pseuydonyme / anonyme Kommentare zu “schlechteren” Kommentaren führen, ist doch schon längst widerlegt. Es kommt schlicht auf die Moderation an. Die mMn beste deutschsprachige Kommentarspalte findet man unter Zeit Online. Anonym – aber gut moderiert.

    1. Liebe(r) Pseudonym
      Danke für Ihre Antwort! Ich teile Ihre Ansicht, dass das ein schreckliches Verständnis von Journalismus ist. Und ich glaube auch, dass die Menschen (User / Leserinnen / Radiohörer / TV-Zuschauerinnen) darauf keine Lust haben! Bei der Anonymität haben Sie mich falsch verstanden: Ich habe nicht geschrieben, dass Pseudonyme oder anonyme Kommentare zu schlechteren Kommentaren führen (ich kenne die Studien, wollte das Thema aber ausklammern, weil ich eh schon zu viel geschrieben habe), ich habe nur geschrieben, dass es gemacht wird (Sie sind ja ein perfekter Beweis dafür!). Ich habe mit der Anonymität zwei andere Probleme: Es geht einerseits um den Stil und die Gesprächskultur, die wir auf unserer Seite pflegen wollen. Ich zum Beispiel möchte nicht mit Leuten über Dinge diskutieren, die unser Zusammenleben angehen, die mir nicht sagen, wer sie sind (ja, ich weiss, man kann auch so tun, als ob man eine reale Person sei). Da kommt dann mein zweites Problem ins Spiel: Anonymität kann die Instrumentalisierung vereinfachen. Und das finde ich nicht gut! Die Anonymität ist, wie Sie ganz richtig schreiben, aber nicht der entscheidende Punkt. Wichtig ist, dass Kommentarfunktionen sinnvoll eingesetzt und Kommentare moderiert werden.

  10. Liebe Frau Stark,

    sie stellen die richtigen Fragen und machen schlaue Vorschläge. Weiter so. Finden Sie Unterstützung.

    Entscheidend ist, wie die Leute, die handeln könnten, den Kontext erleben.

    (“Es geht nur noch um Klicks.” “Uns fehlen die Ressourcen.”) Wer nur das wahrnimmt, hat schon immer verloren gehabt. Vor den Klicks und den Ressourcen gab es nämlich “Auflage” und “Stutz”. Da hat nichts geändert.

    Wer in einem Land, wo eine Lidl-Kassiererin garantiert Fr. 4000.- verdient, die Ressourcen zum differenzierten öffentlichen Dialog vermisst, soll lieber nur noch einkaufen gehen.

    Ich bin gespannt, wie aus Kritik, Wut, Scham, konkrete Anhaltspunkte zu Mechanismen entstehen, Ideen, Prozesse, Experimente.

    Marketingmässig müsste sich das eine der Grossdampfwalzen wie TA, Ringier oder Wanner vornehmen. Realistischerweise wird es aber jemand sein, der dieselbigen am Rücken sticht, wo sie sich wg. Unbeweglichkeit nicht selber kratzen können.

    Danke und Gruss vom Urs Eberhardt

    1. Lieber Herr Eberhardt
      Vielen Dank für Ihre Zeilen, die genau auf das Problem zielen. Mir geht das Jammern über die Ressourcen (obschon das ein Problem ist), auf den Wecker. Das viel grössere Problem ist doch, dass viele Journalisten sich damit abgefunden haben, dass eh alles verloren ist und wir uns in der «Vögeli friss oder stirb»-Phase befinden. Es ist aber so: Wenn wir es nicht ändern, wird es niemand tun. Ich hoffe also auch auf Ideen, Prozesse und Experimente und ich hoffe, dass sich vor allem die Grossen, die Sie genannt haben, mal ernsthaft überlegen, was das eigentlich soll. Ich werde mich gerne aufdrängen und da mit machen. Und Sie können uns aus der Ferne die Daumen drücken 😉

  11. Meinung hat die Eigenschaft, nicht richtig oder falsch zu sein. Darum ist “2+2=4” eine Tatsache, “‘Mein’ Land wäre besser dran ohne X” eine Meinung.

    Daraus ergeben sich elementare Themen, über die man sich auch erstmal eine Meinung bilden muss. An erster Stelle zum Beispiel: Gibt es Meinungen, die Menschen nicht haben dürfen und die daher bekämpft werden müssen? Erst wenn man diese Frage grundsätzlich bejaht, ist es sinnvoll, sich über die Fragen des ‘Welche?’ und ‘Wie?’ Gedanken zu machen.

    Wenn Medien die Meinungsbildung beeinflussen möchten, womit wir ja eigentlich die Büchse der Pandora erst öffnen, dann muss man schon einmal unterscheiden, zwischen Menschen, die eigentliche noch gar keine Meinung haben, weil sie nicht ausreichend informiert sind und Menschen, deren Meinungsbildung bereits abgeschlossen ist.

    Die erste Gruppe ist eigentlich trivial zu versorgen – man muss nur die Tatsachen aufbereiten und servieren – leider scheitern daran schon regelmäßig die Medien, wie der Blogbeitrag mit dem Zeitungsausschnitt zeigt. Und wenn die Tatsachen die Wunschmeinung nicht hergeben, dann muss man halt Lügen und/oder auf Fakten verzichten und Emotionen vermitteln.

    Die zweite Gruppe ist nun deutlich schwieriger zu beeinflussen – sie kennen nunmal die meisten Tatsachen und die meisten Grundpositionen. Wie bringt man jemanden, der sagt:”Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod.” dazu, an ein Leben nach dem Tod zu glauben? Das kann nicht durch stumpfe Wiederholung von altbekannten Tatsachen geschehen, auch nicht durch Verunglimpfung und Beschimpfung und folglich endet da jedweder Dialog in der Sackgasse. Eine abgeschlossene Meinungsbildung lässt sich (falls überhaupt) nur ändern, wenn man den Prozess der Meinungsbildung beim Empfänger auch neu starten kann, entweder durch neue Tatsachen oder durch die Beleuchtung neuer Positionen/Blickwinkel. Und wenn man dies nicht kann, muss man halt eingestehen, keine Möglichkeit zu haben.

    Noch schwieriger ist es natürlich, wenn die Argumente für die eine Seite stichhaltiger sind als für die andere Seite – oder zumindest stichhaltiger kommuniziert werden. Was waren denn die Kernpunkte, die gegen ein Minarettverbot gesprochen haben? “Es könne den religiösen Frieden gefährden, man müsse tolerant sein und man könnte vom Ausland schief angeguckt werden.” Mal ehrlich – auf diesem Niveau kann man nichtmal 8jährige beeinflussen. Da hilft auch Repetition nicht.

    1. Lieber Lars!
      Haben Sie vielen Dank für Ihre sorgfältige Herleitung Ihrer Argumentation. Ich nehme Ihren Post, wie die vielen davor auch schon, natürlich gerne als Bestätigung für meine These 😉 Spass beiseite: Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: Die Argumente, die nicht einmal einen Achtjährigen überzeugen. Ich glaube, wir müssen bei solchen Themen vor den Argumenten einsteigen. Argumente nützen wenig, wenn sie auf diffuse Ängste treffen, die für diejenigen, die sie haben, selber nicht in Worte zu fassen sind. Da versickern Argumente ohne Wirkung. Genau deshalb sind Kommentare so wertvoll, sie stecken voller Hinweise darauf, was die Leute beschäftigt. Wenn wir nicht darauf eingehen, machen wir unseren Job nicht richtig.

    2. Lieber Lars,

      Es gibt noch diejenigen, die eine feste Meinung haben, die sich nicht auf Infos oder Argumente stützen, sondern auf Emotionen und/oder insbesondere Unwissen. Oder deren Ideologie keine Argumente außer den eigenen gelten lässt. Und da wird es schwierig. Kommentarspalten sind “wunderbare” Orte für Ideologisches, denn weder auf der Sach- noch der Metaebene habe ich bislang irgendwo einen Diskussionsstrang gefunden, der dafür ein kultiviertes Mittel fand. Positivbeispiele sind herzlich gern genommen.

      Internette Grüße
      Friederike

    3. Ich finde schon “diffuse Ängste” als der Sache nicht angemessene Verharmlosung. Die Ängste sind nicht diffus. Wenn ein kleines Kind in das elterliche Bett kriecht wegen dem Monster unter dem Bett, dann ist das keine diffuse Angst, nur weil das Kind keine Antwort darauf hat, wie das Monster unter das Bett gekommen sein soll, was es da will und warum es überhaupt stört.

      Die Minarettbefürworter waren nicht in der Lage die vorhandenen Ängste, dass die Gesellschaft sich zu einer islamischen (im staatlichen, nicht im religiösen Sinne!) Gesellschaft wandelt, zu entkräften. Hier hat die Gesellschaft das Recht wahrgenommen, eine Grenze zu ziehen. Man kann darüber diskutieren, ob die Grenze an der Stelle ideal ist – aber man kann diese Ängste nicht als diffus oder irrational abtun.

      Ein einmaliges “Eher tritt der gesamte Bundesrat zurück, als dass wir Scharia-Gerichte einführen!” hätte mehr geholfen als die gebetsmühlenartige Wiederholung, dass die Schweiz schlecht im Ausland darstehen wird.

      Um jetzt wieder zum Thema zu kommen:
      Braucht es Kommentare, um diese Stimmungen aufzufangen und zu kanalisieren? Vielleicht – aber wenn, dann vor allem bei lokalen Themen. Wenn die Stimmung schon so hochgekocht ist, dass da ein Volksentscheid bei rumkommt – mal ehrlich, was sollen mir denn dann noch die Dutzend Kommentatoren helfen? Denn der Volksentscheid ist doch in der Begründung gerade die Umwandlung der “diffusen Ängste” in konkrete Worte und im Inhalt, die Hoffnung, diese Ängste loszuwerden.

      1. Lieber Lars! Wenn ich diffus schreibe, meine ich das Wort nicht im negativen Sinn, sondern, dass es vielen Leuten nicht gelingt, genau zu sagen, was ihnen Angst macht. Das Problem ist doch, dass die Minarett-Gegner nicht in der Lage waren, mit ihren Argumenten einen Anknüpfungspunkt zu finden mit diesen Ängsten. Und um so klare Aussagen zu machen, wie Sie fordern, müssten sich auch Politiker (nicht nur Journalisten) mehr darum kümmern, wo sie mit ihren Aussagen ansetzen sollen. Ich teile Ihre Skepsis, dass Kommentare immer gut sind, total, denn es werden ja eigentlich immer nur Meinungen zementiert, nicht gemacht. Danke noch einmal für das intensive Mitdiskutieren!

  12. Danke für den Artikel!

    Ich finde diesen Ansatz reizvoll und clever, oft genug finde ich mich in Situationen wieder, wo Artikel eher überflogen werden um die Kommentare am Ende zu lesen.

    Was nicht vergessen werden darf, auch abseits von Themen die wirklich ekelhafte Meinungsaäußerungen wie Rassismus provozieren, gibt es kontroverse Meinungen und herausragende Kommentare. Insofern stimme ich dem Grundsatz dieses Artikels vollends zu, ebenso wie der Veränderung der Aufgabe der Journalisten (was teilweise durch das Medium Internet auch schon ganz gut gemacht wird, bspw. durch komplexere, interatkive Info-Grafiken zu schwierigen Themen).

    Es ist wichtig darauf besser zu reagieren und nicht nur in die Defensive abzudriften wenn die Diskussionen hitzig werden. Das ist und bleibt schwierig bei stark polarisierenden Themen, sollte aber grundsätzlich nicht derartig ignoriert werden, wie es aktuell die Regel ist.

    1. Lieber Chris!
      Danke für Ihre Antwort. Ich finde den Aspekt, den Sie eingebracht haben, wichtig: aktiv zu sein, sobald man sich in die Defensive begibt, hat man eigentlich verloren. Und ja, es ist und bleibt schwierig, aber es hat uns ja auch niemand einen Rosengarten versprochen 😉